Der Wohlfahrtsstaat
„Wie überfürsorgliche Eltern schaden uns diejenigen, die uns zu helfen versuchen, am meisten.“ Nassim Taleb
Rational handelnde, verantwortungsvolle Eltern setzen alles daran, ihre Kinder so gut wie möglich vor allen ihnen drohenden Gefahren zu beschützen. Sind die Kinder noch klein und zum Gebrauch des eigenen Verstandes und zu eigener Einsicht noch nicht fähig, geht es auch gar nicht anders. In Momenten der Gefahr sind weitschweifige Erklärungen unangebracht. In solchen Situationen muss schnell und entschlossen gehandelt werden – bei Bedarf auch unter Einsatz brachialer Mittel. Einem Zweijährigen, der sich soeben anschickt, unbekümmert und ohne auf den Verkehr zu achten, auf die Fahrbahn einer stark befahrenen Straße zu laufen, hilft die wachsame Mutter nicht durch liebevolles Zureden, sondern indem sie ihn sich greift und notfalls gewaltsam zurückhält.
Allerdings sind gute Eltern bemüht, ihre Kinder auf die auf sie lauernden Fährnisse so gut wie möglich vorzubereiten und sie so zu erziehen, dass sie selbst ein Sensorium dafür entwickeln, das sie in die Lage versetzt, aus eigenem Entschluss und mit eigener Kraft erfolgreich darauf zu reagieren. Sie werden den im Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern gebotenen Paternalismus dem Alter und der zunehmenden Urteilskraft ihrer Sprösslinge entsprechend schrittweise zurückfahren. Das Übernehmen von Verantwortung will schließlich erlernt sein – und das kann nicht gelingen, wenn überfürsorgliche Eltern jeden einzelnen Schritt ihres Nachwuchses bis über die Pubertät hinaus zu überwachen und zu lenken trachten.
Kinder, die nicht beizeiten lernen, sich vom Rockzipfel ihrer Mutter zu lösen und auf eigenen Beinen zu stehen, ohne bei jedem Schritt zu stolpern, werden es im Leben nicht weit bringen – zumindest nicht ohne ernsthafte Blessuren. Die Erfahrung des Scheiterns im Kleinen ist nämlich außerordentlich wichtig, um geeignete Strategien entwickeln zu können, wirklich großen Niederlagen im Erwachsenenalter nach Möglichkeit vorzubeugen. Je später der erste ernsthafte Rückschlag eintritt – etwa, weil überfürsorgliche Eltern ihrem Nachwuchs immerzu jedes sich vor ihnen auftürmende Hindernis aus dem Weg geräumt haben – desto schmerzhafter und frustrierender wird dieser empfunden werden.
Kurzum: Gute Eltern zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihren Kindern das zur Bewältigung ihres Lebens notwenige Rüstzeug mitgeben, damit diese später auf eigenen Beinen stehen und ihr Leben aus eigener Kraft und mit voller Verantwortung für ihre Handlungen bewältigen können. Gute Eltern werden daher nicht versuchen, unentwegt in die Geschicke ihrer Kinder lenkend einzugreifen, sie bis ins Erwachsenenalter unter Kuratel zu stellen und andauernd vor sich selbst und den Folgen ihrer Handlungen zu beschützen. Sie werden all ihr Sinnen und Trachten darauf richten, ihren Nachwuchs zu verantwortungsbewussten, selbständigen Persönlichkeiten heranzuziehen, die sich bei der Bewältigung ihres Lebens stets ihres Verstandes bedienen und sich nicht auf die Hilfe anderer verlassen.
Die Rolle, die einst intakten, funktionierenden Familien zukam, übernimmt in wachsendem Maße der moderne Wohlfahrtsstaat. Der tritt mit dem zunächst verführerisch klingenden Anspruch an, seine Bürger, gleich einem um seine Kinder besorgten Vater, vor allen Fährnissen des Lebens beschützen zu wollen. Er liefert zu diesem Zweck allerdings, anders als fürsorgliche Kindeseltern, die ihre Erziehungsaktivitäten im Laufe der Zeit schrittweise zurücknehmen, ein alle Lebensbereiche durchdringendes Gesamtpaket, das von der Wiege bis zur Bahre reicht und dem niemand entrinnen kann und soll.
Der Wohlfahrtsstaat ist weit über die Grenzen jener vom deutschen Denker und Sozialistenführer Ferdinand Lassalle einst verächtlich als „Nachtwächterstaat“ abqualifizierten Organisation hinausgewachsen, die sich lediglich der Aufrechterhaltung von Recht und Gesetz in einem definierten Territorium verpflichtet sah und die mit einem Minimum an beamtetem Personal und Geld auskam. Der Staat hat heute so gut wie alle für die Gesellschaft wesentlichen Bereiche direkt oder indirekt unter seine Fuchtel gezwungen: Schulwesen, Universitäten, Gesundheits- und Pensionssystem, Energieversorgung, Post- und Eisenbahnwesen sowie den Straßenbau – allesamt Angebote, die ohne weiteres auch von privaten Anbietern unter Wettbewerbsbedingungen erbracht werden könnten. Private Alternativen zum obligat zu konsumierenden, staatlichen Angebot existieren allenfalls noch in kleinen Nischen.
Hier ist nicht der Platz, um auf die in 100 von 100 Fällen eintretenden, üblen ökonomischen Konsequenzen des Ersatzes von Marktmechanismen durch die zentralistische Planung einer Kommandowirtschaft einzugehen. Jedenfalls zieht die ständig weitergehende Zurückdrängung von Privatrecht, Markt und Wettbewerb – weit über den Bereich von Kindeserziehung und Bildung hinaus – folgenschwere Konsequenzen nach sich, die für den Gegenstand der hier angestellten Überlegungen von größter Bedeutung sind.
„Es gibt zwei grundsätzlich entgegengesetzte Mittel, mit denen der überall durch den gleichen Trieb der Lebensfürsorge in Bewegung gesetzte Mensch die nötigen Befriedigungsmittel erlangen kann: Arbeit und Raub, eigne Arbeit und gewaltsame Aneignung fremder Arbeit.“
Franz Oppenheimer
Jeder Staat schafft zwei Klassen von Menschen: Diejenigen, die ihn finanzieren und die anderen, die von ihm leben. Die Mentalität jedes Einzelnen wird maßgeblich dadurch geprägt, welcher der beiden Gruppen er angehört. Wer sein Geld in der Sphäre des Marktes verdient, ist daran gewöhnt, Leistungen erbringen zu müssen, die von zahlungskräftigen Kunden nachgefragt werden. Wer dagegen im Dunstkreis des Leviathans sein Einkommen erzielt oder von Transferzahlungen lebt, steht nicht vor dieser Herausforderung. Was er auch tut oder lässt: darauf, seinen Mitmenschen einen nützlichen Dienst zu leisten, braucht er/sie keinen Gedanken zu verschwenden.
Personen, die selbst niemals etwas anderes als den staatlichen Apparat der Zwangsbeschulung in all seinen giftig schillernden Farben kennengelernt haben (von der Volksschule übers Gymnasium bis in die Universität) und anschließend – egal in welcher Funktion – beim Staat anheuern, leben zeitlebens in einer ebenso komfortablen wie surrealen Parallelwelt. Als öffentlich Bedienstete brauchen sie sich den Schrecknissen des Wettbewerbs – und damit der Notwenigkeit, sich und ihre Tätigkeit der Bewertung durch eine kritische Kundschaft zu unterwerfen –, nicht zu stellen. Was auch immer sie tun oder auch nicht tun, ist für ihren Broterwerb ohne jede Bedeutung. Ihr von den Steuerzahlern zu erwirtschaftendes Einkommen ist ja – anders als das der unter Marktbedingungen Werktätigen (gleich ob selbständig oder angestellt) – in keiner Weise an messbare Leistungen respektive an deren Bewertung durch die unfreiwilligen Zahler gebunden.
Dass aber jemand, der für sein eigenes Leben, zumindest für den wesentlichen Teil des Broterwerbs, niemals Verantwortung übernehmen musste, weil er/sie als Beamter sicher sein kann, ungeachtet der von ihm/ihr erbrachten Leistungen auf Kosten Dritter alimentiert zu werden, dazu qualifiziert sein sollte, das Leben des produktiv tätigen Teils der Menschen zu reglementieren, darf massiv angezweifelt werden. Wer an dieser Stelle einwendet, dass Exekutivbeamten ja gar keine Gesetzgebungskompetenz zukommt, darf nicht übersehen, dass sich der weit überwiegende Teil der politischen Verantwortungsträger aus den Reihen des öffentlichen Dienstes sowie der Zwangsvertretungen der Berufsstände, Gewerkschaften und öffentlichen Unternehmen (die vergleichbare Privilegien genießen) rekrutiert, und Gesetze zum Großteil aus von Ministerialbeamten ausgearbeiteten Regierungsvorlagen resultieren.
Gewaltentrennung findet heute nur noch in der politischen Theorie, nicht aber der geübten Praxis der Spätzeit des europäischen Wohlfahrtssozialismus statt. Parlament, Regierung, Justiz und leider auch die unter der Bezeichnung „Presseförderung“ korrumpierten Medien sitzen im selben Boot. Diese Kamarilla hat zu 99 Prozent niemals im Leben auch nur einen einzigen Cent mit produktiver Arbeit unter Wettbewerbsbedingungen verdient. Das prägt.
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Ing. Andreas Tögel
Mittelstandsprecher